Spur des Grauens
Es war kurz vor sechs an einem kühlen Samstag im Oktober. Es war Hal- loween, und Herr und Frau Schlüter waren auf eine Party bei Freunden einge- laden. Ina Schlüter, ihre dreizehnjährige Tochter, durfte mit ihren Freunden durch die Straßen ziehen und anschließend bei ihrer besten Freundin Amelie übernachten.
Aufgeregt hüpfte Ina in ihrem Zimmer auf und ab. Es war das erste Mal, dass sie bei einer Freundin übernachten durfte, selbst, wenn sie schon drei- zehn war. Gerade das würde die Sache spannend machen. Denn ihre kleine, achtjährige Schwester Mia durfte heute schon bei ihrer Freundin Lilly über- nachten, doch die beiden würden bloß in die Nachbarstraße gehen, um Süßes oder Saures zu erbetteln, danach wäre ihnen kalt und sie würden sich lieber bis um halb eins vor Lillys Handy setzten und dann halbtot ins Bett fallen. Nein, so was machte man mit dreizehn längst nicht mehr, fand Ina.
Sie und Amelie hatten schon vor einer Woche den Plan aufgestellt, dass sie mindestens bis um halb neun durch die Straßen des kleinen Dorfes Rehbach wandern wollten. Danach sollte ein Gruselfilm geschaut und dann eine klei- ne, heimliche Mitternachtsparty veranstaltet werden. Ina hatte unter höchster Geheimhaltung zwei Tüten Chips und ein paar Kekse besorgt, denn hätte Mia davon erfahren, dann hätte sie ihre Schwester nicht mehr in Ruhe gelassen, bis diese ihr mindestens die Hälfte gegeben hätte. Sie war ein gefürchteter Quälgeist.
Amelie hatte eine XXL-Packung Salzstangen und ebenfalls ein paar Kekse gekauft. Das sollte ihr Mitternachtssnack werden.
Ina und Amelie freuten sich schon die ganze Woche auf das Halloweenfest,
und nun war es endlich soweit. Sobald es dunkel werden würde, würde sie mit Amelie und Paul auf Halloween gehen und hoffentlich noch etwas für ihre Mitternachtsparty beisteuern können.
Mit einem Blick auf die Uhr riss Ina ihren warmen Wollpulli aus dem Kleiderschrank. „Mama?“, rief sie.
„Ja?“ Mit halbfertig geschminkten Augen streckte Frau Schlüter ihren Kopf ins Zimmer. „Was ist denn?“
„Ich weiß nicht, wo mein Kostüm ist!“, jammerte Ina, langsam etwas hektisch werdend. „Es ist schon zehn vor sechs, gleich kommt Amelie! Wo ist mein Kostüm?“
„Äh…“ Frau Schlüter drückte ihrer Tochter das Schminkzeug in die Hand. „Lass mal schauen…“ sie musste nur kurz suchen, dann zog sie das Hexenko- stüm aus dem Kleidungsstapel auf Inas Schreibtischstuhl heraus. Mit einem missbilligendem Blick reichte sie es Ina.
„Danke Mama“, murmelte sie und ließ das Kostüm schnell in ihrer Tasche verschwinden. „Ich dachte, es wäre in der Wäsche oder so.“
„Vermisst du sonst noch irgendwas?“, fragte Frau Schlüter. „Nö.“ Ina grinste. „Sonst ist alles da.“
„Gut. Dann geh’ ich jetzt wieder ins Bad, weil irgendwann wollen Papa und ich ja auch weg.“ Ina gab ihrer Mutter das Schminkzeug, dann machte sie sich wieder hochkonzentriert daran, alles Nötige einzupacken. Kurz vor sechs schlüpfte Ina zufrieden in ihr Hexenkostüm, schaute dann das Fenster hinaus und wartete auf Amelie, die sie von zu Hause abholen wollte.
Da! Endlich kam bog sie um die Straßenecke. Schnell sauste Ina aus ihrem Zimmer und riss die Haustür auf, bevor Amelie auch nur klingeln konnte. „Mensch!“, regte sie sich auf, als sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte. „Musstest du mich so erschrecken?“
„Beruhige dich!“, lachte Ina. „Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf heute Abend!“
Amelie musste schlucken, wie sie an den Film denken musste. Aber kneifen konnte sie nicht, schließlich hatte sie ihn vorgeschlagen. Ina unterbrack ihre Gedanken. „Du, bleib kurz hier stehen. Ich gehe nur nochmal rein, um mein Zeug zu holen und meiner Mama Bescheid zu sagen.“ Sie sauste zurück in ihr Zimmer und schnappte sich ihre Tasche. Dann klopfte sie an die Badezimmer- tür. „Mama? Amelie ist da, ich geh dann!“
„Ja!“, hörte sie Mama von drinnen sagen. „Ist gut, meine Große! Viel Spaß und bis morgen! Ich hab dich lieb!“
Auf dem Weg zu Amelie redeten die beiden Mädchen über Halloween. Amelie an Inas Kleid. „Hübsch!“, meinte sie. „Was ziehst du an?“, fragte Ina ihre Freundin. Diese lachte. „Auch Hexe. Andrea geht als Zombie, Paul als Skelett.“
Bald hatten die Freundinnen Amelies Zuhause erreicht. Sie lebte zusammen mit ihrem Großvater in einem kleinen Haus am Ortsrand, seit Amelies Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. „Hallo Opa!“, rief Amelie ihrem Opa zu, der gerade im Vorgarten an seinen Salatbeeten beschäftigt wa- ren. Die beiden Mädchen blieben am Zaun stehen. „Hallo ihr zwei!“, begrüßte Amelies Opa die beiden. „Hallo Ina! Schön dich mal wieder zu sehen, du warst ja schon lange nicht mehr bei uns!“
„Ja!“, erwiderte Ina. Amelie öffnete die Gartenpforte und die beiden Mäd- chen liefen hinein. „Du kannst deine Tasche oben in Amelies Zimmer abstel- len.“, wies Amelies Opa sie ein. „Ah, und Amelie: Dein Kostüm war in der Wäsche und ist noch auf dem Balkon, aber es müsste schon trocken sein.“
„Danke, Opa!“ Amelie fiel ihrem Großvater um den Hals. Dann drehte sie sich wieder zu Ina um. „Wenn du willst, kannst du auch hier bleiben. Ich nehme deine Tasche mit nach oben!“
„Ja, danke!“, erwiderte Ina. „Das ist sehr nett von dir.“ Sie gab ihrer Freundin die Tasche, mit der diese augenblicklich ins Haus und in ihr Zimmer sauste. Ina blieb vor dem Salatbeet stehen. Amelies Großvater hatte sich wieder zu seinen Salatköpfen hinuntergebeugt. Er sah nicht so aus, als würde er sich über sie freuen. Kein Wunder, fand Ina: Sie waren klein, vollkommen zerfressen und von Nacktschnecken nur so übersät. „Diese dummen Nacktschnecken!“, schimpfte Amelies Opa da los. „Fressen mir den ganzen Salat auf!“
Ina runzelte die Stirn. „Wieso benutzen Sie nicht so was wie Schneckengift?“ Herr Weber schaute zu Ina auf. „Nee, du, ich will meinen Salat biologisch an- bauen. Das heißt, dass ich keine Gifte verwende. Das nimmt der Salat ja alles auf und das essen wir dann.“
Bei diesem Gedanken verzog Ina angewidert das Gesicht. „Aber was machen
Sie sonst gegen diese Plagegeister? Sie werden ihnen ja wohl nicht den ganzen Salat schenken.“
„Nein, das werde ich sicher nicht tun.“ Amelies Großvater kratzte sich an der Stirn. „Ich denke, ich werde ein paar Bierfallen aufstellen. Da steckt man ein paar leere Joghurtbecher rund ums Beet, in die man danach Bier einfüllt. Die Schnecken werden von dem Bier magisch angezogen, fallen in die Becher und ertrinken. Rein biologisch.“
Beeindruckt nickte Ina. Doch bevor sie etwas sagen konnte, war Amelie wieder da. Auch sie sah den ärmlichen Salat an. „Wie wäre es denn, Opa“, begann sie da. „wenn du mal etwas düngst? Der Boden hier ist total schlecht, kein Wunder, das hier nichts mehr wächst!“
Der Angesprochene kratzte sich nochmals am Kopf. „Na ja“, begann er dann. „Vielleicht ist das nicht mal so dumm.“
„Natürlich nicht!“, sagte Amelie gespielt entrüstet. Ina musste lachen. „Mh“, brummte Herr Weber. „Ich glaube, im Keller habe ich noch einen Biodünger, den ich mal im Internet bestellt habe. Der wurde als Giga-Dünger beworben!“
Er lief zur Kellertür und kam nach einem kurzen Moment mit einem großen Sack zurück. Amelie stürzte sofort auf ihren Opa zu, um ihm beim Tragen zu helfen. Ina staunte. In dem Sack waren mit Sicherheit zwanzig Kilo!
„Wir stellen den Sack am Rand des Beetes ab!“, dirigierte ihr Opa Ame- lie. „Okay!“, keuchte diese zurück. Doch bevor sie in ablegen könnten, riss die Plastikverpackung und der Dünger rieselte heraus. „Oh nein!“, riefen Ina und Amelie wie aus einem Munde. „Das darf doch jetzt wohl nicht wahr sein!“, grummelte Amelies Opa. „Wir müssen das, was nicht feucht geworden ist, auf- heben, schnell!“ Sie sammelten zu dritt auf, was sie konnten. Viel zu retten war allerdings nicht mehr, denn es blieben satte fünf Kilo auf dem Boden liegen.
„Und was jetzt?“, fragte Ina, als sie fertig waren. Ratlos zuckte Amelie mit den Schultern. „Was sollen wir machen, Opa?“ „Wir verteilen den Dünger jetzt einfach im Beet. Dann sehen wir ja, was aus meinem Salat wird.“, antwortete Opa. Schweigend erledigten die drei die Arbeit. Es wurde langsam dämmrig. Als sie fertig waren, schaute Ina verwirrt gen Himmel. War es wirklich schon so spät? Sie zupfte Amelie am Ärmel. „Du ich glaube, dass wir langsam los müssen! Sonst werden Andrea und Paul ohne uns losgehen und bis an ihr Lebensende auf uns böse sein!“
„Du hast recht! Ich gehe uns nur noch zwei Taschen für die Süßigkeiten holen, dann können wir los!“ Sie rannte erneut ins Haus und kam kurz dar- auf mit zwei Taschen wieder. Sie warf sie Ina während dem Laufen zu und rannte zur Gartentür hinaus. „Tschüss Opa!“, rief sie ihrem Großvater über die Schulter zu. „Wir sind spätestens halb neun wieder da!“ Ina sprintete Amelie hinterher. „Bis nachher!“, rief auch sie über die Schulter. Dann waren beide um die Straßenecke verschwunden.
An der Bushaltestelle ‚Pfeifengasse‘ standen zwei vermummte Gestalten. Ein Skelett und ein Zombie. Als Ina und Amelie angerannt kamen, schauten sie auf. „Na endlich!“, rief der Zombie. Er war Andrea. „Ich dachte schon, ihr wurdet von irgendwas gefressen!“ Amelie musste lachen. „Etwa von den Nacktschne- cken auf dem Salat meines Großvaters? Nee, du!“
Kichernd gingen die vier Gestalten in Richtung Ortsmitte. „Wo sollen wir als erstes hin?“, fragte das Skelett, während sie um die Ecke bogen. Es war Paul. „Wie wäre es mit der Hallstraße?“, fragte Andrea. Die Gruppe blieb stehen. „Da sind jedes Jahr Leute, die sich total gruselige Sachen einfallen lassen.“
„Super, das machen wir!“, stimmte Ina ein. „Aber vielleicht gehen wir erst hin, wenn es ganz dunkel ist. Dann ist es noch gruseliger!“
Amelie verzog das Gesicht. Sie gruselte sich nicht so gerne wie Ina und Andrea. Auch Paul schien nicht so ganz wohl bei der Sache zu sein. „Bis dahin können wir ja auch noch auf dem Weg liegenden Häusern klingeln. Dann kommen wir ungefähr dann an, wenn es dunkel wird.“, bestimmte Andrea. Die anderen nickten.
„Okay, dann lasst uns doch gleich hier anfangen!“ Ina zeigte auf das erste Haus in der Straße. Zwei flackernde Kürbisse mit geschnitzten Gesichtern standen auf der kleinen Vortreppe. „Hier sind wir auf jeden Fall richtig!“, stellte Paul fest. „Das sind richtige Halloweenfans. Schaut mal, wie aufwendig die Kürbisse geschnitzt wurden!“ Die Freunde gingen durch den Vorgarten. Amelie drückte auf die Klingel. Erwartungsvoll schauten die vier Gestalten auf die Tür.
Doch nichts regte sich.
„Das kapier ich nicht!“, schimpfte Andrea. „Die Kürbisse sind doch an, warum macht da niemand auf?“ Enttäuscht liefen sie den Gartenpfad entlang. „Und dass schon beim ersten Haus!“, meckerte Amelie. „Wenn dass so wei- ter… oh, schaut mal!“ Sie zeigte auf den Pfosten der Gartentür. Auf ihm stand eine große Schüssel. Die vier Gruselgestalten sahen hinein. Sie war voller Sü- ßigkeiten. „Super!“, rief Ina. Da haben wir doch noch was!“ Sie nahmen sich jeder zwei Süßigkeiten, bevor sie zum nächsten Haus marschierten. Dort hat- ten sie Glück und die Tür wurde geöffnet. Auch die meisten weiteren Türen wurden ihnen geöffnet und sie bekamen reichlich Beute. Schließlich war es
sieben Uhr.
„Jetzt ist es fast dunkel.“, sagte Andrea zu den anderen. „Sollen wir es jetzt
in der Hallstraße versuchen?“ Die anderen nickten stumm. Sie machten sich langsam auf den Weg, blieben jedoch an jeder Tür stehen und klingelten. Um viertel nach sieben erreichten sie die Hausnummer dreizehn der Hallstraße. Im Garten stand eine Hexe und rührte in ihrem Kessel herum. Langsam kamen die vier näher. Die Hexe sah auf. „Hallo.“, grüßte sie mit rauer Stimme. „S-süßes oder Saures!“, sagte Amelie mit stockender Stimme.
„Süßes oder Saures?“ Die Hexe warf etwas in den Kessel. Es dampfte und zischte. Erschrocken wich Amelie zurück. Die Hexe griff in ihre Tasche und zog eine Knoblauchzehe heraus, die sie Amelie in die Hand gab. „Hier.“, sagte sie. „Das ist die Eintrittskarte zum Gruselzelt.“ Sie wies auf ein Zelt aus schwar- zen Plastikplanen, das vor der Garage stand. Dann warf sie wieder etwas in den Kessel und rührte mit einem langen Stab um. Amelie, Andrea, Ina und Paul liefen langsam auf das Zelt zu. Am Eingang stand ein Vampir. Er lächelte und zeigte dabei seine weiß bitzenden Eckzähne. „Die Eintrittskarte, bitte!“
Amelie hob zögernd den Knoblauch in die Höhe.
„Hereinspaziert!“, sagte der Vampir und machte einladende Handbewegung. Wie von Zauberhand wurden die Planen beiseite gezogen, die den Eingang verdeckten. Die vier liefen in das dunkle Zelt durch einen leeren Gang und um die Biegung. Dort standen mehrere Monster, Hexen und Zombies. Ein Mann lag in einem Sarg, der ganz hinten an der Zeltwand stand. Vor ihm waren Grabkerzen und ein Hut aufgestellt. Eine Hexe streckte eine knöcherne Hand in Paul Richtung. Der wich erschrocken zurück. Andrea griff nach der Hand und schüttelte sie stark. „Guten Tag!“, rief sie und ihre Augen blitzten kampflustig auf.
„Nehmt euch!“, sagte ein Zombie und zeigte auf den Hut. Andrea war die Mutigste. Sie lief nach vorne und griff vorsichtig in den Hut. Dann steckte sie etwas in ihre Süßigkeitentasche und lief zurück.
„Los!“, zischte sie den anderen zu. „Da sitzt nix drin, was beißt!“
Zögernd griffen nun auch die anderen in den Hut. „Los, wir verschwinden!“, flüsterte Amelie. Die anderen nickten. Auch Ina hatte genug. War das gruselig! Draußen atmete Amelie auf. „Boah, hab’ ich mich gefürchtet! Hier gehen
wir nächstes Mal nicht mehr hin! Also, zumindest ich nicht.“
„Na ja“, gab Ina zu. „Es war schon ein bisschen heftig.“
„Auf jeden Fall!“, stimmte Paul zu. „Das war echt heftig!“
„Ihr Angsthasen!“, rief Andrea da. „So schlimm war es jetzt auch wieder
nicht.“
„Na ja…“, widersprach ihr Amelie. „So schön fand ich es jetzt auch nicht.“ Die
vier Jugendlichen setzten sich wieder in Bewegung und liefen zur nächsten Häusergruppe.
„Das war schön!“, seufzte Ina, während Amelie die Haustür aufschloss.
„Ja.“, bestätigte die. „Opa!“, rief sie dann ins Treppenhaus. „Wir sind wieder
da!“
Die Mädchen stiegen mit ihren Taschen voller Süßigkeiten die Treppe hin-
auf und öffneten die Wohnungstür. „Opa?“, rief Amelie nochmals.
„Hier!“ Herr Weber stand in der Küche und holte gerade ein Blech aus dem Backofen. „Ich dachte, ich mach’ euch was warmes zu essen. Ihr habt
doch sicher Hunger!“
„Und wie!“, stöhnte Ina. „Was gibt es denn?“
„Och…“, sagte Herr Weber geheimnisvoll. „Geht euch mal die Hände waschen, dann werdet ihr es schon sehen.“ Das ließen sich die Mädchen nicht zweimal sagen, wie der Blitz stellten sie ihre Taschen ab, flitzten ins Bad und dann zurück in die Küche, wo sie sich erwartungsvoll an den Tisch setzten. Herr Weber stellte jedem der Mädchen einen Teller mit einem in Blätterteig eingewickeltem Würstchen auf den Tisch.
„Danke, Opa!“, rief Amelie begeistert. „Das ist sehr nett, wirklich!“, bestätigte
auch Ina. Dann stürzten sich beide wie die Löwen auf die Würstchenmumien, bis sie fast das ganze Blech geleert hatten.
„Mann, bin ich satt!“, stöhnte Ina. „Ich auch.“, sagte Amelie. „So viel gegessen habe ich schon lange nicht mehr!“
„Dann nehme ich mal an, dass es geschmeckt hat?“, fragte Amelies Opa. „Und ob!“, antwortete Amelie. „Es war echt super, das könntest du öfters ma- chen.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Na, na, das heben wir uns dann doch für Hallo- ween auf. So gerne mache ich das jetzt auch wieder nicht, weißt du?“
„Okay.“, gab Amelie klein bei. Ina sah auf die Uhr. „Du, es ist schon fast neun Uhr, wir verpassen hier grade unseren Film!“
Wie von einer Wespe gestochen sprang Amelie auf. „Und das sagst du erst jetzt?? Na los! An den Fernseher!“
In Windeseile saßen sie auf der gemütlichen 80er Jahre Couch und Amelie hatte die Fernbedienung in der Hand. „Welcher Sender?“, fragte Amelie hek- tisch, während sie den Fernseher bereits einschaltete. Ina blätterte im Fern- sehheft. „SWR ist raus!“, meldete Amelie. Da kommt irgendein DoKu!“
„Ja, ich seh’ s. Kannst du bitte ganz kurz still sein, damit ich mich konzentrieren kann?“ „Ja, ist ja gut!“, grummelte Amelie. „SAT 1!“, rief Ina da. „SAT 1! Los, schalt um!“ Amelie hüpfte um den Couchtisch herum und nahm die Senderliste vom Regal. Dann drückte sie die entsprechende Zahl.
Der Film war tatsächlich sehr gruselig, das fand nicht nur Amelie: Auch Ina gruselte sich ziemlich. Doch gerade als der Film zum Höhepunkt kam, machte es plötzlich Zapp! – und der Fernseher war aus. Ina und Amelie atmeten im ersten Moment auf, doch dann begann Amelie schon, sich aufzuregen. „Was ist denn jetzt los?“, rief sie. „Opa?“
Ihr Opa, der die Zeit damit verbracht hatte, ein Kreuzworträtsel in der Küche zu lösen, kam sich durchs Dunkel tastend ins Wohnzimmer. „Opa, was ist los?“, fragte Amelie nochmals.
„Ich weiß es nicht, Kind. Der Strom scheint ausgefallen zu sein. Vielleicht ist eine Sicherung raus geflogen.“ Er spähte aus dem Fenster. Man konnte perfekt über die Straße sehen. „Das ist komisch.“, murmelte er dann. „Die ganze Straße hat keinen Strom. Seht mal, alle Laternen sind aus!“
Sofort klebten zwei Nasen am Fenster. „Du hast recht!“, sagte Amelie. „Ent- weder ist ein Baum auf die Stromleitung gefallen oder es ist irgendwas mit der Energieversorgung.“
„Ja, aber wann fällt denn bitteschön ein Baum einfach so um? Es hat in letzter Zeit nicht zu viel und nicht zu wenig geregnet, noch war es windig!“, warf Ina ein. „Ja, das ist in der Tat merkwürdig. . . “, stimmte Herr Weber den Mädchen zu. Er drehte sich um und tastete sich vor zu einem Schrank. Er öffnete eine Schublade und zog nach kurzem Suchen eine Taschenlampe heraus. Er schaltete sie ein und öffnete die Tür zum Treppenhaus. „Ich bin gleich wieder da!“, rief er den Mädchen zu. „Ich geh nur mal schnell zum Sicherungskasten, um nachzusehen, dass da wirklich alles in Ordnung ist!“
Er stieg die Treppe hinunter und die beiden Mädchen saßen wieder im Dunklen. Der Mond kündigte sich bereits durch das Licht am Horizont an. Es war totenstill. „Du“, zerriss Amelie plötzlich die Stille. „Wie wäre es, wenn wir unsere Mitternachtsparty jetzt schon abhalten? Es ist zwar noch nicht zwölf, aber ich brauche was für den Magen.“
„Gute Idee.“, stimmte Ina zu. Sie liefen zum Treppenhaus und Amelie rief „Opa, wir sind in meinem Zimmer!“, hinunter, dann stolperten die Mädchen die Treppe hinauf. Dank des Mondes, der mittlerweile aufgegangen war und durch das Dachfenster von Amelies Zimmer schien, konnten sie einigermaßen sehen.Amelie zog die Kekse und Salzstangen aus ihrem Kleiderschrank und Ina ihre Kekse und Chips. Sie verteilten alles auf dem Teppich wie auf einer Picknickdecke, wünschten sich guten Appetit und begannen zu essen und zu erzählen. Die Chips waren als erstes alle, danach Amelies Kekse. Schließlich waren die Mädchen satt. Sie spielten eine Runde Memory zum Zeitvertreib, dann setzte sich Ina auf Amelies Bett und starrte aus dem Fenster. Amelie selbst hatte sich auf ihr Bett gelegt und sah durch das Dachfenster in den Himmel.
„Da, schau mal!“, rief Ina plötzlich. Ihre Stimme klang laut und aufgeregt. „Was ist da?“ Amelie sprang auf. „Wo? Was?“, fragte sie. „Da hinten, auf dem Feld!“ Amelie kniff die Augen zusammen. Verflixt, wieso musste es auch immer so nebelig sein? Doch dann bemerkte sie die Gestalten, die sich langsam vom Nebel hervorhoben und immer näher kamen. Sie waren mindestens zwei Meter groß und hatten zwei Antennen auf dem Kopf.
„Was ist das?“, fragte Amelie mit dünner Stimme. „Etwa Außerirdische?“
„Ich weiß nicht.“, antwortete Ina. Ihre Handflächen waren verschwitzt. „Aber die Dinger gefallen mir ganz und gar nicht.“
„Sollen wir meinem Opa Bescheid sagen?“, fragte Amelie. Sie fummelte nervös an ihren Haarspitzen herum. „Auf jeden Fall.“, meinte Ina. Schnell liefen sie die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo Herr Weber im fahlen Schein des Mondes auf dem Sofa saß.
„Opa!“, keuchte Amelie. „Wir sehen da was ganz gruseliges!“
„Ich konnte auch etwas Gruseliges!“, sagte Amelies Opa. „Mein Salatbeet ist komplett leer gefressen! Und auf dem Boden ist so ein komisches Schleimzeug oder so. . . Aber ich weiß jetzt, wieso wir keinen Strom haben.“
„Ernsthaft?“ Amelie riss entgeistert die Augen auf. „Hinter unserem Haus steht ein Strommast.“, erklärte Herr Weber. „Der ist umgekippt. Wieso, weiß ich auch nicht. Aber auch über ihm ist dieser komische Schleim.“
„Der Mast ist wirklich umgefallen?“, fragte Ina erschrocken. „Einfach so? Wie ein abgebrochener Baum?“
„Genau so.“, antwortete Herr Weber. „Wie ein abgebrochener Baum.“
„Ach du Schande! Wie konnte das nur passieren?“, fragte Amelie entsetzt. „Das weiß ich nicht.“, seufzte Amelies Großvater. „Aber was wolltet ihr mir denn noch zeigen?“
„Komm mal mit hoch!“ Amelie schob ihren Großvater die Treppen hinauf. Ina lief hinterher. Amelie blieb am Fenster stehen. „Da!“ rief Ina und zeigte Richtung Felder. Im Nebel sah man immer noch die Gestalten sitzen. Sie waren stehengeblieben.
„Opa?“, fragte Amelie leise. „Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?“
„Mh“, brummte Herr Weber. „Nein. Für Wildschweine sind die Dinger zu groß. Seid ihr euch sicher, dass das überhaupt Tiere sind und nicht irgendwas anderes?“
„Ja!“, riefen die Mädchen gleichzeitig. „Vorhin haben sie sich auf jeden Fall bewegt!“, fügte Ina hinzu. „Das werden wir gleich sehen.“, brummte Amelies Opa. „Ich habe unten ein Fernglas, dann werden wir hoffentlich sehen, was es ist.“
Er tastete sich wieder die Treppe hinunter und kam gleich darauf mit einem großen Fernglas zurück. „So!“, sagte er. „Macht mal ein bisschen Platz!“
Ina und Amelie rückten zur Seite und Herr Weber trat ans Fenster. Dann schaute er durchs Fenster und stutzte. „Was ist es?“, fragte Ina zögernd. „Das. . . “, stotterte Amelies Großvater. „Das sieht aus wie meine Nacktschnecken. Nur in groß!“ Er nahm das Fernglas herunter. „Nein. In riesig!“
Die Mädchen rissen die Augen auf. „He?!“, stotterte Amelie. „Wie geht das denn?“
„Der Giga-Dünger!“, kombinierte Ina. Amelie nickte. „Das muss es sein. Was sollen wir jetzt machen?“
„Keine Ahnung.“, antwortete ihr Opa. „Wartet kurz, ich gehe schnell das Fernglas runter bringen.“ Erneut lief er nach unten. Amelie und Ina sahen das Fenster hinaus. „Wie kann es sein“, fragte Amelie mit belegter Stimme. „das Nacktschnecken so groß werden? Durch einen Dünger!“
Die Nacktschnecken hatten sich wieder in Bewegung gesetzt. „Sie kommen geradewegs auf uns zu!“, rief Ina aufgeregt. „Was sollen wir machen?“ Amelie sprang vom Bett auf. „Opa!“, rief sie panisch die Treppe hinunter. „Ich komme schon!“, rief Herr Weber von unten. „Was ist denn los?“
„Die Nacktschnecken kommen!“ Amelies Stimme überschlug sich fast. Auch Ina am Fenster war ganz zappelig geworden. Was, wenn die Nacktschnecken den ganzen Ort verwüsten würden? Was, wenn sie nicht nur Pfähle knicken und Salat fressen würden? Was, wenn sie auch Häuser und Menschen ver- schlingen würden? Bei diesem Gedanken lief Ina ein eisiger Schauer über den Rücken.
Amelie kam zurück aufs Bett gesaust. „Opa kommt.“, sagte sie. „Mh.“, machte Ina geistesabwesend. Die Nacktschnecken waren inzwischen nur noch zwanzig Meter entfernt. Sie kamen immer näher. Auch Amelies Opa hatte sich mittler- weile wieder ans Fenster gesetzt. „Oh Gott!“, rief er.
„Was sollen wir machen?“, fragte Amelie entsetzt. „Ich weiß es nicht, wir können niemanden anrufen, der Strom ist weg, und ein Handy haben wir auch nicht!“ Auch Herr Weber wurde langsam hektisch. Die Nacktschnecken nahmen genau Kurs auf das Haus. Inas Herz klopfte ihr bis zum Hals. Immer näher kamen die Nacktschnecken. Immer näher und näher. Alle drei starrten wie gebannt aus dem Fenster und warteten auf das, was geschehen würde. Die Schnecken waren nun nur noch einige Meter vom Haus entfernt. Die Größte kroch über den umgekippten Pfahl, die anderen taten es ihr gleich.
„Seht ihr das?“, fragte Amelie mit zitternder Stimme. „Die bekommen nicht mal einen Stromschlag! Wie kann das sein?“
Mittlerweile waren alle Schnecken über den Pfahl gekrochen und um der Hausecke verschwunden. „Wo sind…“ Ina wurde durch ein lautes Schmatzen unterbrochen. Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus. Ihr Mund war trocken wie eine Sandwüste. Ein Zittern durchfuhr das Haus. „Was ist jetzt los?“, schrie Amelie panisch.
„Los, raus!“, befahl Herr Weber. „Schnell!“
Zwei Stufen auf einmal nehmend rannten die Mädchen die Treppe hinunter zur Haustür. „Was sollen wir denn machen, Opa?“, rief Amelie. „Da draußen sind doch die Nacktschnecken!“
„Egal!“, keuchte Amelies Großvater. „Wir müssen sofort nach draußen!“ Er schob Amelie zur Seite und öffnete die Tür. „Aaahhh!“, schrie Amelie. Genau vor der Tür kroch eine riesige Nacktschnecke vorbei. Schnell sprang Ina vor und knallte die Tür zu. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Eine solche Angst hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gehabt. Da erzitterte das Haus erneut. Durch das Fensterchen in der Tür konnten sie sehen, wie die Nacktschnecke sich langsam zu ihnen umdrehte und sie böse und furchteinflößend anstarrte.
Ina, Amelie und Herr Weber liefen so weit zurück, bis sie an die erste Treppenstufe stießen. Die Schnecke öffnete ihr riesiges Maul. Ihr Gesicht kam immer näher. Amelie wimmerte leise, als ein weiteres Beben das Haus erschüt- terte. Ina vergrub das Gesicht in ihren Händen und wartete ab. Doch nichts geschah. Vorsichtig blickte sie auf und sah ängstlich zur Tür. Doch da war nichts. Dort, wo die Nacktschnecke vorher gesessen hatte, war einfach nur: nichts. Verwundert blickte sie zu Amelie. Diese zuckte ratlos mit den Schul- tern. Hatten sie alles nur geträumt?
Amelies Großvater machte ein paar mutige Schritte auf die Tür zu und öffnete sie. Keine Nacktschnecke. Amelie atmete auf. Mit immer noch weichen Knien traten nun auch sie und Ina nach draußen. In der Hausecke klaffte ein großes Loch. Der Garten war nach wie vor voller Schleim und das Salatbeet war immer noch leer. Nein, sie konnten nicht geträumt haben.
Ina sah nach unten. „Da, schaut mal!“ Sie wies auf den Boden. Dort saß eine kleine Nacktschnecke, die scheinbar versuchte, sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Die Wirkung des Düngers musste nachgelassen haben.
Amelie sah zu ihrem Großvater. „Opa,“, sagte Amelie erleichtert. „diesen Dünger kaufst du nie, nie wieder.“ Herr Weber nahm sie in den Arm. „Das verspreche ich dir hoch und heilig.“, antwortete er.
An dieses Halloween würden sich die Mädchen sicher noch lange erinnern.
Neva Sofia Hager, Klasse 7a