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Die Entführung

Kapitel 1 – Viktor

„Henry! Beeil dich, du kommst sonst noch zu spät zur Schule!“, rief Viktor. „Und ich komm wieder zu spät zur Arbeit“, schob er grummelnd hinterher, obwohl er an diesem Morgen nicht vorhatte, dorthin zu gehen. Viktor Lawrence war von Beruf Kommissar bei der Mordkommission in Münster. Oft bekam er zu hören, dass er der Beste in seinem Job war und das mochte auch stimmen, gab es doch kaum einen Mordfall, den er nicht gelöst bekam. Ursprünglich machte ihm sein Job Spaß, so komisch das auch klingen mochte. Er bekam es immer gut hin, trotz der oft sehr brutalen Morde, die er klären musste, doch in letzter Zeit fiel ihm das immer schwerer. Nachts wurde er oft von Alpträumen aus dem Schlaf geholt, die mit seinen aktuellen Fällen zu tun hatten. Das Ganze begann, als sich seine Frau Linda sich von ihm trennte, weil sie einen neuen Freund gefunden hatte, der „den Menschen hilft, wenn sie noch am Leben sind“, so hatte sie ihn zumindest beschrieben, als sie Hals über Kopf von zu Hause abgehauen war. Henry hatte sie ihm mit den Worten: „Der Junge ist mittlerweile genauso verrückt wie du“, überlassen. Linda hatte seinen Job nie wirklich leiden können und er hatte das Gefühl, dass sie nur darauf gewartet hatte, einen Grund zu finden sich zu scheiden. Obwohl ihn sein Job so belastete, war er ihm zuerst noch weiter nachgegangen, bis es nicht mehr anders ging. So hatte er sich für diesen Morgen einen Termin bei einem Psychologen gemacht, in der Hoffnung, dass es ihm durch eine Therapie besser gehen würde. „So Papa, ich bin fertig“, riss Henry ihn aus seinen Gedanken. „Na dann bring ich dich zur Schule, mein Großer. Steig schon mal ins Auto.“ „Ich bin  jetzt schon neun Papa, ich kann auch selbst zur Schule laufen. Alle anderen in meiner Klasse machen das auch schon“, maulte Henry. Viktor hasste es, seinen Sohn alleine zu lassen. Als Kommissar malte er sich immer die schlimmsten Dinge aus, die seinem Sohn passieren konnten, wenn er nicht in der Nähe war. Doch er wusste, dass er irgendwann doch loslassen musste und dass dieser Tag jetzt wohl gekommen war. „Na gut mein Großer, aber pass auf dich auf und steig bei niemandem ins Auto“, sah Viktor ein. „Papa hat dich lieb!“, rief er seinem Sohn noch hinterher, doch dieser war schon zu weit weg, als dass er ihn noch hören könnte. Mit dem Gedanken „Dann muss ich jetzt wohl auch los“ gab sich Viktor einen Ruck und ging zu seinem BMW vor der Tür. Er stieg ein, startete den Wagen und ließ den Motor einmal laut aufheulen. Dann fuhr er los. Die ganze Fahrt über hatte er ein ungutes Gefühl, dass er seinen Sohn alleine zur Schule hatte gehen lassen. So hatte er in seinen Gedanken sein Handy zu Hause liegen gelassen. Was er allerdings noch nicht wusste, war, dass er damit einen folgenschweren Fehler begangen hatte.

Kapitel 2 – Henry

Henry war froh, dass sein Vater endlich einsah, dass er alt genug war, um alleine zur Schule zu laufen. Vor der Schule machte er noch einen kleinen Abstecher in eine alte, verlassen wirkende Seitenstraße, die von den Schülern immer die Geisterstraße genannt wurde. Doch Henry wusste, dass an dieser Straße außer ihrem Aussehen nichts Gruseliges war. Er und sein Vater waren schon oft in den Getränkeladen am Ende der Straße gegangen, um Almdudler zu kaufen, das Lieblingsgetränk seines Vaters. Heute wollte er seinem Vater, der in letzter Zeit immer so bedrückt wirkte, eine Freude machen und ihm eine Flasche von dem Getränk mitbringen. Als Henry an dem kleinen Laden ankam, traf ihn die Enttäuschung. Auf einem Schild an der Ladentür stand in großen, roten Buchstaben “Heute geschlossen, bitte kommen Sie morgen wieder”. Niedergeschlagen und in Gedanken versunken drehte Henry sich um und wollte die Straße zurück und zur Schule laufen. Dabei bemerkte er nicht, wie sich hinter ihm eine Gestalt aus einer Ecke löste und mit schnellen, leisen Schritten auf ihn zukam. Als Henry die Person, die eine schwarze Sturmhaube trug, bemerkte, war es schon zu spät. Der Unbekannte packte Henry. Dieser versuchte zu schreien, doch der Unbekannte hielt ihm den Mund zu. Währenddessen zog er mit der anderen Hand eine Spritze aus seiner Jackentasche, schnippte die Kappe weg und rammte Henry die Spritze in den Hals. Henry spürte, wie ihn seine Kräfte verließen und ihm schwarz vor Augen wurde. Das Letzte, was er spürte, war das er fortgetragen wurde, ihm ein Knebel in den Mund gestopft wurde und er Handschellen angelegt bekam. Dann hörte er nur noch das Zuschlagen eines Kofferraumdeckels, bevor er vollständig das Bewusstsein verlor.

Kapitel 3 – Viktor

Nachdem er geschlagene drei Stunden im Wartezimmer gesessen hatte, nur um dann zu erfahren, dass die Sprechstundenhilfe, mit der er am Telefon den Termin ausgemacht hatte, zwei Termine auf die gleiche Uhrzeit gelegt hatte und er noch weitere zwei Stunden hätte warten müssen, um endlich an die Reihe zu kommen, nachdem er dieser ein wütendes “Sie können mich mal am Arsch lecken, ich hau ab” entgegen gebellt hatte, war er nun auf dem Heimweg. Er hatte sich den ganzen Tag lang frei genommen und da Henry noch kein Schulaus hatte, würde er noch ein bisschen Zeit für sich haben. Das dachte er zumindest bis zu dem Moment, in dem er die Haustür aufschloss, sein Handy auf dem Esstisch vorfand und sah, dass die Grundschule seines Sohnes versucht hatte ihn zu erreichen. Sofort beschleunigte sich sein Puls. “Ganz ruhig. Henry hat wahrscheinlich nur Bauchweh gehabt und wollte abgeholt werden”, versuchte Viktor sich zu beruhigen. Als das einigermaßen funktioniert hatte, wählte er die Nummer der Schule und nach einem Tuten hob jemand aus dem Sekretariat ab. “Guten Tag, Sie hatten versucht mich zu erreichen”, brach es aus Viktor heraus, “ist alles mit Henry okay?” “Das wollte ich Sie eigentlich fragen. Henry ist heute Morgen nicht in der Schule aufgetaucht. Allerdings hatten Sie ihn auch nicht abgemeldet. Wird er die nächsten Tage denn auch noch fehlen?”, wollte die Dame am anderen Ende der Leitung von Viktor wissen. Dieser gab jedoch keine Antwort mehr. Er legte auf und ihm wurde schwarz vor Augen.

Kapitel 4 – Henry

Als Henry wieder zu sich kam, brauchte er einen Moment, bis er realisierte, wo er war und was passiert war. Vorsichtig öffnete er die Augen. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die düstere Umgebung gewöhnt hatten. Langsam hob er den Kopf und schaute sich um. Er lag auf einem alten Operationstisch aus Metall, an dem auch seine Hände und Beine festgebunden waren, sodass er sich nicht richtig aufrichten konnte. In dem Raum war es düster. Die einzige Lichtquelle war eine Leuchtstoffröhre, die in der Mitte des Raumes an der Decke hing. Der Raum war allerdings ziemlich groß, sodass bei Henry kaum etwas von dem Licht ankam. Der Operationstisch, auf dem er lag, stand in einer Ecke des Raumes. An den Wänden des Raumes standen mit Kartons zu gepackte Regale, deren Bretter sich wegen der Last der Kartons durch bogen. Der Staubschicht auf den Kartons nach zu urteilen, standen sie schon ewig dort. Der Raum war sehr karg und abweisend gestaltet. Die Wände waren nicht verputzt oder gestrichen und man sah die Ziegelsteine, aus denen sie gemauert waren. Der Boden war gelblich gestrichen und schien aus Estrich gegossen worden zu sein. Außerdem befanden sich in dem Raum noch ein Waschbecken und eine Toilette aus Gusseisen, die allerdings auch so aussahen, als ob sie schon jahrelang nicht mehr geputzt wurden. Als Henry seinen Kopf zur Seite drehte, erschrak er. Auf dem Operationstisch klebte noch altes Blut und wovon das war, wollte er sich nicht näher ausmalen. Henry spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. “Sei stark und hör auf zu heulen”, befahl sich Henry in Gedanken, doch es half nichts. Er begann laut und bitterlich zu weinen, die Tränen rannen seine Wangen hinunter und tropften auf den Operationstisch. Er rüttelte an seinen Händen und an seinen Beinen, aber die Stricke lösten sich um keinen Millimeter.

Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mann kam herein. Henry schrie, doch der Mann beachtete sein Schreien gar nicht und entgegnete nur: “Hör auf so zu kreischen, Kleiner. Hier unten im Keller hört dich eh keiner. Die Wände sind so dick wie die von einem Bunker.” Dann bewegte sich der Mann mit schlurfenden Schritten auf Henry zu. “Was haben Sie mit mir vor?”, schluchzte Henry. “Mein Vater arbeitet bei der Polizei! Er wird kommen und Sie verhaften!” Da fing der Mann schallend an zu lachen. Das Lachen klang, als ob es aus einem rostigen und rußigen Ofenrohr kam. “Hör mal zu, Kleiner”, grunzte der Mann, während er sich über Henry beugte, sodass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von Henrys entfernt war, “dein Vater wird dich hier niemals finden. Wir sind hier am Arsch der Welt, mitten im Wald. Ach was solls, ich kann dir ja eigentlich sagen, wo genau wir sind. Du wirst hier eh nicht mehr wegkommen.” Dann räusperte er sich einmal und redete weiter: “Es gibt in Norddeutschland einen Ort namens Windeby. Dieser Ort ist bekannt geworden durch zwei Moorleichen, die dort über lange Zeit gammelten und dann irgendwann aus dem Moor gezogen wurden. Und in der Nähe von diesem Leichenfundort sind wir gerade, in einem kleinen Häuschen mitten im Wald. Und weißt du, was das Beste ist?”, der Mann fletschte seine gelben Zähne, “Wenn ich dich nicht mehr brauche, kann ich dich genauso entsorgen. Irgendwann wirst du für mich langweilig werden, so wie zehn andere Kinder vor dir. Ich finde, Kinder sind doch die schönsten Spielzeuge für mich.” Henry würgte und übergab sich schließlich auf den Boden neben dem Tisch. Der Mann stand grinsend auf und verließ den Raum. Henry hatte schon Hoffnung, der Mann würde nicht wiederkommen, doch als sich die Tür des Raumes erneut öffnete, wusste er, dass das Schlimmste nicht der Tod war, von dem ihm der Mann erzählt hat, dass er ihn sterben würde. Der Mann betrat den Raum erneut, und diesmal hatte er keine Kleider mehr an.

Kapitel 5 – Viktor

Als Viktor wieder zu sich kam fühlte er eine warme Flüssigkeit auf seiner Stirn. Außerdem fühlte sich sein Kopf an, als ob er jeden Augenblick explodieren könnte. Viktor tastete seine Stirn ab und bemerkte etwas Schmieriges an seinen Fingern. Blut. Er musste umgekippt sein und sich den Kopf auf dem Boden aufgeschlagen haben, als er ohnmächtig geworden war. Doch jetzt war für Viktor nicht der richtige Zeitpunkt darüber nachzudenken. Er musste Henry finden, koste es, was es wolle. Noch so angezogen, wie er gekommen war, und mit blutender Stirn stieg Viktor in seinen Wagen. Er startete den Motor und raste los, doppelt so schnell, wie er eigentlich durfte. Er fuhr Henrys kompletten Schulweg ab, doch er konnte nichts sehen, weder Henry noch etwas, das darauf hindeutete, dass er jemals hier langgelaufen war. Viktor wollte schon wieder umdrehen, als sein Blick an der Seitenstraße hängen blieb, die oft Geisterstraße genannt wurde. Er stieg aus seinem Wagen aus und bog zu Fuß in die Straße ein. Erst fand er auch hier nichts, doch dann entdeckte er eine Spritze, die auf dem Boden lag. Es war zwar sehr unwahrscheinlich, dass diese Spritze irgendetwas mit Henrys Verschwinden zu tun haben könnte, doch er hatte nichts anderes, an dem er sich festhalten konnte. Deshalb hob er die Spritze mit Handschuhen auf und tat sie in einen Gefrierbeutel. Anschließend holte er noch einen getragenen Pullover von Henry und fuhr dann auf direktem Weg in die Rechtsmedizin. Der dort agierende Rechtsmediziner, Dr.  Albert Forkman (kurz Bert), war ein alter Schulfreund von ihm. “Hallo Viktor!”, begrüßte ihn Dr.  Forkman. “Ich brauche unbedingt einen DNA Abgleich!”, kam Viktor direkt zur Sache. Verwundert über die Stürmischkeit seines Freundes, die ihm sonst gar nicht ähnlich sah, entgegnete Albert: “Was ist los? Warum bist du eigentlich so außer Atem? Und was ist überhaupt mit dir passiert? Du blutest ja an der Stirn!” “Mit mir ist alles okay. Aber mit Henry nicht! Er kam heute Morgen nicht in der Schule an, aber ich habe das gar nicht mitbekommen, weil ich mein Handy zu Hause vergessen hatte. Du weißt doch, ich hatte heute Morgen den Termin beim Psychologen, von dem ich dir gestern noch erzählt habe. Als ich das mitbekommen habe bin ich erstmal umgekippt, deswegen das Blut auf meiner Stirn. Als ich wieder zu mir kam, bin ich sofort losgefahren, in der Hoffnung, irgendwelche brauchbaren Hinweise zu finden, was mit Henry passiert sein könnte. Und dabei habe ich diese Spritze gefunden. Und jetzt bitte ich dich, dass du einen DNA Abgleich der DNA an dieser Spritze und Henrys DNA machst und herausfindest, was sich in dieser Spritze befand!”, polterte Viktor los. Sichtlich überrumpelt hob Albert beschwichtigend die Hände und versuchte Viktor zu beruhigen: “Ist ja gut, ist ja gut. Ich mache den Abgleich. Im Gegenzug versprichst du mir, dass du jetzt erstmal deine Wunde auswäschst. Dann werde ich sie dir verbinden, sonst verblutest du mir noch.”

Kapitel 6 – Henry

Es war das Schlimmste, was Henry je durchmachen musste. Eine halbe Stunde lang hatte der Mann, dessen Namen Henry bis jetzt nicht wusste und auch nicht wissen wollte, mit Henry seine dreckigen Spielchen gespielt, hatte ihn vergewaltigt, misshandelt und gequält. Henry musste dabei alles über sich ergehen lassen und konnte nicht mal versuchen sich zu wehren, da er ja an den Operationstisch gefesselt war. Er hatte vor Schmerzen, sowohl psychischen als auch physischen, geschrien, doch das hatte dem Mann nur noch mehr gefallen und er hatte Henry noch mehr gequält. Als der Mann dann endlich gegangen war, musste Henry sich eine Viertelstunde lang am laufenden Band übergeben. Dabei ging alles auf sein T-Shirt, da er sich vor Schmerzen kaum bewegen konnte und seinen Kopf deshalb nicht drehen konnte. Die Hoffnung auf Rettung hatte Henry schon nach den ersten fünf Minuten des “Spiels” (wie es der Mann nannte) aufgegeben. Das einzige, was Henry noch wollte, war der Tod. Er wünschte sich, einfach nur noch zu sterben. Er versuchte, die Luft so lange anzuhalten, bis er erstickte, aber er schaffte es nicht, da sein Körper automatisch Luft holte, bevor er erstickte. Abwechselnd weinte Henry oder übergab sich, oft auch beides gleichzeitig. Bald kam der Mann wieder und das gleiche wiederholte sich, nur dass es von Mal zu Mal schlimmer wurde. Bald hatte Henry jegliches Zeitgefühl verloren und hatte keine Ahnung mehr, wie lange er schon gefangen war. Es war nach drei weiteren Spielen, als Henry plötzlich ein Gedanke kam. Er erinnerte sich daran, dass er an dem Morgen seiner Entführung noch ohne dass sein Vater davon mitbekam sein Smartphone in seinen Ranzen gesteckt hatte. Henry durfte das Handy eigentlich nicht mit in die Schule nehmen, an diesem Morgen wollte er es aber heimlich mitnehmen, um es seinen Freunden in der Schule zu zeigen. Soweit Henry es mitbekommen hatte, hatte sein Entführer seinen Ranzen nicht kontrolliert gehabt, sodass das Handy immer noch in dem Ranzen sein müsste. Henry müsste es nur hinbekommen, das Handy einzuschalten und einen Anruf an seinen Vater abzusetzen. Henry hatte keinen richtigen Plan, er musste es einfach versuchen. Und das tat er auch. Es gab nur einen Moment, in dem Henry losgebunden wurde und das war der, in dem er aufs Klo gehen durfte. Als es soweit war, setzte sich Henry zuerst brav aufs Klo. Dabei schaute ihm der Mann immer besonders neugierig zu. Henry begann damit sein kleines Geschäft zu verrichten, stand dann aber plötzlich auf und zielte auf das Gesicht seines Entführers. Dieser hatte damit überhaupt nicht gerechnet und bekam die Flüssigkeit in die offenen Augen und in den offenen Mund. Er schrie vor Schmerzen auf und rieb sich verzweifelt die Augen, rannte zum Waschbecken und ließ das Wasser über seine Augen laufen. Henry aber war zu seinem Rucksack gerannt, hatte das Handy hervorgeholt und schaltete es jetzt ein. Es dauerte ewig, bis das Gerät hochgefahren war. Dann erschien das Ziffernfeld auf dem Display, welches ihn zur Eingabe seiner SIM-Kartenpin aufforderte. Henry gab sie ein und träumte in Gedanken schon, wie sein Vater ihn abholte und seinen Entführer verhaftete. Er wählte die Nummer seines Vaters und es geschah… nichts. Im Keller hatte Henry keine Mobilfunkverbindung. Vor lauter Freude und jetzt Verzweiflung hatte Henry überhaupt nicht bemerkt, dass das Wasser aufgehört hatte zu laufen. Der Mann hatte sich von hinten an Henry angeschlichen und packte ihn jetzt am Hals. Henry schnappte nach Luft, doch der Mann lachte nur und würgte ihn weiter. “Versuch nie wieder mich zu verarschen du Dreckskind!”, schrie der Entführer ihm direkt ins Ohr, welches danach sofort zu piepsen begann. Erst als Henry schon blau im Gesicht wurde und er alles nur noch verschwommen wahrnahm, ließ der Mann von ihm ab und schleuderte ihn auf den Boden. Dann trat und schlug er noch auf Henry ein, bevor er ihn wieder an dem Tisch festband. “So. Ab jetzt wirst du nicht mehr aufs Klo gehen dürfen. Mir ist es egal, ob du dir in die Hose machst, du kleiner Hosenscheißer. Und das hier”, brüllte der Mann, während er mit Henrys Handy in der Luft wedelte und ihm der Geifer aus den Mundwinkeln direkt auf Henrys Gesicht tropfte, “wirst du nie wieder sehen!” Dann verließ der Mann den Raum und Henrys Verzweiflung war doppelt so groß wie vorher.

Kapitel 7 – Viktor

Es war nun schon der nächste Morgen, als Viktor wieder in die Rechtsmedizin von Dr. Forkman kam. Er hatte in der Nacht überhaupt nicht geschlafen und seine Kopfschmerzen waren noch schlimmer geworden. Aber davon durfte er sich jetzt nicht stören lassen. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Dabei hoffte er inständig, dass die Spritze die richtige Fährte war. Wenn die DNA an der Spritze der von Henry gleich war, wurde Henry höchstwahrscheinlich entführt oder er war tot, das hinge dann von dem Inhalt der Spritze ab. Wenn die Spritze nicht die DNA von Henry an sich hatte, gäbe es gar keine Spur von Henry, und diese Ungewissheit wäre wahrscheinlich noch schlimmer als alle anderen Möglichkeiten. “Hallo Bert! Und? Hast du Neuigkeiten?”, fragte Viktor hoffnungsvoll, direkt nachdem er die Rechtsmedizin betreten hatte. “Ja, tatsächlich. Setz dich hin, dann erzähle ich sie dir”, antwortete Dr. Forkman. “Jetzt mach schon!”, drängte Viktor. “Nun gut”, seufzte Bert und setzte sich auf seinen Stuhl, “die DNA an der Spitze der Spritze stimmt tatsächlich mit der an Henrys Pullover überein, das heißt, jemand hat Henry den Inhalt der Spritze gespritzt.” “Und was war dieser Inhalt?”, unterbrach Viktor seinen Freund aufgeregt. “Dazu kommen wir jetzt”, fuhr dieser fort, “in der Spritze befand sich ein starkes Narkosemittel, welches Henry wohl gespritzt wurde. Durch dieses Mittel verliert man über lange Zeit das Bewusstsein und…”, fuhr Bert fort. “Das heißt, dass Henry entführt wurde”, unterbrach Viktor seinen Freund erneut, “dann nichts wie los! Wir müssen die komplette Straße absuchen, ob wir noch irgendwelche Hinweise finden!” Bevor Bert protestieren konnte, spurtete Viktor aus dem Raum und zog Bert hinter sich her.

Kapitel 8 – Viktor

Viktor und Bert hatten alles abgesucht, doch sie hatten nichts gefunden. Sie waren den kompletten Schulweg noch zweimal zu Fuß abgelaufen, doch keine Spur. Die Geisterstraße hatten sie noch genauer untersucht, doch auch hier hatten sie nichts gefunden. Am Abend kehrte Viktor niedergeschlagen nach Hause zurück. Bert hatte ihm angeboten, die Nacht über bei ihm zu bleiben, aber Viktor hatte abgelehnt. Er brauchte nun etwas Zeit für sich alleine. Außerdem musste er über das weitere Vorgehen nachdenken, denn nur weil er noch nichts gefunden hatte und die Wahrscheinlichkeit, dass er seinen Sohn jemals wieder sehen würde mit jeder Minute entfernter zu rücken schien, wollte er noch nicht aufgeben. Wenn er eins in seinem Job als Kommissar bei der Münsteraner Polizei gelernt hatte, dann war das, dass er nie aufgeben durfte, bevor nicht endgültig klar war, dass er den Kampf verloren hatte.

Als Viktor zu Hause ankam, ging er zuerst in das Zimmer seines Sohnes. Die Tür stand offen und obwohl Henry erst knapp zwei Tage verschwunden war strahlte das Zimmer Einsamkeit aus. Viktor ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen und dachte an die Momente, die er mit Henry schon in diesem Zimmer erlebt hatte. Henrys Bett ließ dieser am nächsten Morgen immer völlig unordentlich zurück und Viktor musste immer die Decke für ihn zusammenlegen. Jetzt war das Bett noch vom Vortag gemacht und seitdem hatte niemand mehr darin geschlafen. Und der Schreibtisch. Der Schreibtisch war immer unaufgeräumt und in dem Saustall flog irgendwo Henrys Notebook und sein Handy herum. Viktor beschloss, den Schreibtisch aufzuräumen. Er hatte eh nichts Besseres zu tun, außerdem konnte er sich damit ablenken. Es dauerte zwei Stunden, bis er mit dem Aufräumen fertig war, aber irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas, was sonst immer auf dem Schreibtisch lag, fehlte nun. Viktor wusste nur nicht, was es war. Er schloss die Augen und kramte in seinem Gedächtnis nach einem Bild des Schreibtischs, auf dem er ordentlich war. Schlagartig traf ihn die Erkenntnis. “Das Handy”, keuchte er, “Es ist weg.”

Kapitel 9 – Henry

Nachdem Henry versucht hatte, mit seinem Handy seinen Vater zu erreichen, war alles noch schlimmer geworden. Der Mann hatte seine Drohung wahr werden lassen und Henry durfte wirklich nicht mehr aufs Klo gehen. Anfangs versuchte er noch, sein großes und sein kleines Geschäft zu halten, irgendwann gab er auf. Mittlerweile hatte er es akzeptiert und machte sich in die Hose wenn er musste. Der Mann kam noch öfter, um mit Henry zu spielen, und die Spiele wurden immer länger und schlimmer. Henry konnte sich kaum noch bewegen, überall an seinem Körper hatte er Blutergüsse, Schürfwunden und Schnittwunden. Außerdem wurde Henry immer heftiger bestraft, wenn er bei den Sexspielen seines Entführers nicht gut genug war. Henry dachte, dass die Verzweiflung nach dem ersten Spiel, das der Mann nach der Entführung mit ihm gespielt hatte, nicht mehr hätte schlimmer werden können, doch da hatte er sich geirrt. Henry spürte den Wunsch zu sterben mehr als je zuvor. Sogar wenn er jetzt noch gerettet werden würde, würde er niemals mehr so leben können wie davor. Henry wollte nicht mehr gerettet werden. Er wollte nur noch sterben. Doch diesen Gefallen wollte der Mann ihm nicht tun. Er würde seine Spielchen immer schlimmer machen, bis Henrys Körper irgendwann daran zu Bruch ginge. Henrys Geist war schon lange gebrochen und zerstört.

Kapitel 10 – Viktor

Als sich Viktor von der Erkenntnis des fehlenden Handys erholt hatte, rief er sofort Bert an: “Du musst sofort zum Polizeipräsidium kommen. Wir treffen uns dort. Den Rest erkläre ich dir später.” Dann legte er auf und stieg in seinen Wagen. Er bretterte mit 200 Stundenkilometern über die Landstraße, kam fünf Mal fast vom Weg ab, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte und kam wie durch ein Wunder schließlich heil auf dem Parkplatz des Präsidiums an. Bert wartete dort schon auf ihn. “Ich habe Henrys Handy nicht auf seinem Schreibtisch gefunden. Das heißt, er muss es heimlich mit in die Schule genommen haben. Und wenn wir Glück haben, ist sein Handy eingeschaltet und wir können es orten”, erklärte Viktor knapp. “Und du meinst, das Henrys Entführer seinen Rucksack mit dem Handy behalten hat?”, zweifelte Bert. “Wir haben am Ort der Entführung weit und breit keinen Rucksack gefunden. Wir müssen es auf jeden Fall versuchen. Zu verlieren haben wir eh nichts”, hielt Viktor dagegen. “Nun gut, dann lass es uns versuchen”, seufzte Bert. Daraufhin gingen die beiden zu Viktors Büro und starteten den PC. Während dieser hochfuhr, gab Bert zu bedenken: “Dir ist aber hoffentlich klar, dass du hierbei deinen Job verlieren kannst? Du hast keine Genehmigung für eine Handyortung. Und wenn, dürftest du die Ortung nicht selbst machen.” “Weißt du was?”, entgegnete Viktor barsch, “das ist mir sowas von scheißegal. Es geht hier um das Leben meines Sohnes. Da geht mir mein Job am Arsch vorbei.” Dann war der PC hochgefahren und Viktor startete die Ortung. Die beiden Männer starrten gespannt auf den Bildschirm. “Ja!”, schrie Viktor triumphierend, “wir haben ein Signal!” “Nicht nur ein Signal, sondern auch einen Ort”, lächelte Bert, “Komm, nichts wie hin. Und ruf lieber Verstärkung. Wer weiß, ob es nur ein Entführer oder mehrere waren.”

Kapitel 11 – Viktor

Nach viereinhalb Stunden Fahrt waren Viktor und Bert endlich in Windeby – dem Ort, den die Handyortung ergeben hatte – angekommen. Die angeforderte Streife war auch schon vor Ort und hatte sogar schon den im Wald gelegenen Ort abgesucht. “Guten Tag Herr Lawrence”, begrüßte ein junger Polizist Viktor, “Es tut uns leid, aber wir konnten nichts finden bis auf das Handy. Keine Spur von ihrem Sohn.” Viktor spürte, wie alle Wärme und Hoffnung, die sich nach der erfolgreichen Ortung in seinem Körper angesammelt hatten, mit einem Schlag aus ihm herausflossen. Ihm wurde kalt. Er hatte versagt. Er sah sich schon, wie er sich an einem Strick vom Dach des Polizeipräsidium aufhängte. Viktor taumelte und Bert musste ihn stützen, damit er nicht hinfiel. Plötzlich sahen sie in der Ferne zwei Autoscheinwerfer, die rasant näher kamen. Innerhalb weniger Sekunden war der Geländewagen bei ihnen angekommen und raste an ihnen vorbei. Plötzlich spürte Viktor eine eiserne Entschlossenheit. “Hinterher!”, schnauzte er und setzte sich auch schon in seinen Wagen. Die anderen waren verdutzt, folgten aber seinem Befehl und kurze Zeit später verfolgten Viktors Wagen und zwei Polizeiautos den Geländewagen. Der Fahrer des Wagens schien betrunken zu sein, da er seine Verfolger nicht zu bemerken schien. Vielleicht hatte er Alkohol getrunken. Der Geländewagen hielt vor einer kleinen Hütte mitten im Wald. Die Polizeiautos blieben ein wenig auf Abstand, doch Viktor fuhr unbeirrt weiter. Der junge Polizist, mit dem er vorhin gesprochen hatte, rief ihm etwas Unverständliches zu, doch Viktor hielt weiter auf den Geländewagen zu. Kurz vor dem Wagen legte er eine Vollbremsung hin, trotzdem rammte sein BMW den anderen Wagen. Bert, der auf dem Beifahrersitz saß, schrie auf, doch Viktor beachtete ihn nicht. Er stieg aus seinem Wagen aus und rannte auf den Fahrer des anderen Wagens zu, der gerade die Tür der Hütte aufgeschlossen hatte und sich bei dem Krach erschrocken umgedreht hatte. Viktor stieß ihn unsanft zur Seite und rannte in die Hütte hinein, eine Treppe hinunter und fand dort eine schwere Eisentür, die allerdings nicht abgeschlossen war. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür bis diese schließlich nachgab. Er machte einen Schritt in den Raum und blieb dort wie angewurzelt stehen. Auf einem Operationstisch in einer Ecke des Raumes lag Henry, doch er war nicht wiederzuerkennen. Mittlerweile war auch der Autofahrer, der mindestens um zwei Köpfe größer war als Viktor, die Treppe herunter und in den Raum gekommen. Als Viktor sich umdrehte, blickte er direkt in den Lauf einer Pistole. “Sag Tschüss zu deinem Vater!”, sagte der Mann grinsend in Henrys Richtung gerichtet und drückte ab.

Kapitel 12 – Viktor

Als Viktor aufwachte, brauchte er mehrere Minuten, bis er sich an das erinnerte, was passiert war. “Bin ich im Himmel?”, fragte sich Viktor. “Nein alter Bursche, du bist im Krankenhaus”, antwortete eine Stimme. Viktor musste laut gedacht haben. Er drehte den Kopf und erkannte Bert, der neben seinem Krankenhausbett auf einem weißen Stuhl saß. “Was ist passiert?”, fragte Viktor verwirrt. “Als Kurzfassung: Du hast den Entführer deines Sohnes gefunden, er wollte dir eine Kugel durch den Kopf jagen, hat aber nur dein Bein getroffen, weil ich ihn im letzten Moment umgehauen habe. Henry liegt auf der Intensivstation, lebt aber und sein körperlicher Zustand verbessert sich zufriedenstellend”, erklärte Bert knapp. “Und sein geistiger Zustand?”, hakte Viktor nach. Bert seufzte. “Henry ist schwer traumatisiert und bekommt Panikattacken wenn jemand ihm zu nahe kommt. Nach dem Krankenhausaufenthalt wird er auf die geschlossene Anstalt kommen und ob er dort jemals wieder wegkommt, ist fraglich”, gab Bert mit traurigem Gesicht zu. Und in diesem Moment wurde Viktor klar, dass er zwar den Körper seines Sohnes retten konnte, es für den Geist aber schon zu spät war.

-ENDE-

Fabian Scholz, Klasse 9b