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Hilflos

Ich schlug die Augen auf und befand mich in einem Raum, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Es kam mir vor als wären nur Sekunden vergangen, seit Mama mich ins Bett gebracht hatte. Mir war, als spürte ich noch ihren sanften Kuss auf meiner Stirn, während sie mich behutsam zudeckte.

Das war in meinem Zimmer gewesen. Das hier war nicht mein Zimmer und es war, bis auf ein paar bunte Lichter die ein wenig entfernt neben mir blinkten, sehr dunkel.

Nur schemenhaft konnte ich auf der anderen Seite des Raumes ein weiteres Bett ausmachen. Da lag etwas, nein jemand, den ich nicht klar erkennen konnte. Ein rasselndes Geräusch füllte die Stille, es erinnerte an ein Atmen, aber kein normales Atmen, nichts was ich zuvor gehört hatte. Dann endete es abrupt.

„Hallo? Wo bin ich?“ flüsterte ich in die Dunkelheit. Keine Antwort. Meine Stimme in dem Raum fühlte sich fehl am Platz an, als stände es mir nicht zu, die beinahe heilige Stille zu unterbrechen, die um mich herum herrschte. Wo waren meine Eltern? Was tat ich hier? Wie könnte ich hier schnellstmöglich verschwinden?

Vielleicht würde die Person im anderen Bett mehr wissen?

Ich rollte aus dem Bett, indem ich lag heraus, ganz vorsichtig, denn es war ein außergewöhnlich hohes Bett, sehr viel höher als ich es von daheim gewöhnt war. Der kühle Boden unter meinen Füßen verriet mir, dass ich nicht mal Socken anhatte und ich merkte wie ich zu zittern begann. Ich wünschte Papa wäre da um meine Hand zu nehmen.

Ich tapste Schritt um Schritt näher an die Person in dem anderen Bett, wobei mir auffiel, dass der Raum kleiner war als er sein sollte, so kam es mir zumindest vor. Die Wände schienen wie ein Käfig, streifig und sehr eng, als kämen sie langsam auf mich zu. Vom Schlaf noch ganz benommen kam es mir vor als wäre die ganze Welt in Watte gepackt und ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Vorsichtig näherte ich mich dem Bett und tippte die Person leicht an. Nichts geschah. Irgendwie wirkte der Arm des Menschen dort zu steif, mehr wie ein Brett und weniger wie ein Arm.

Ein ganz schlechtes Gefühl machte sich in mir breit. Mein Magen fühlte sich an als müsste ich mich gleich übergeben, meine Beine waren ganz wabbelig. Ich rüttelte ein bisschen stärker an der Person und zuckte zusammen, als ein lautes, schrilles Geräusch in meinen Ohren erklang. Schnell drehte ich mich weg und lies die Person im Bett allein. Eine furchtbare Vermutung stieg in mir auf.

Konnte es sein? Ich hatte das Gefühl, dass es mit der Person genauso war wie mit meinem Kaninchen. Schnuffel. Der war in der Sonne eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Seine kleinen Pfötchen waren auch steif wie Bretter gewesen, als ich ihn an mich gedrückt hatte.

Ich spürte wie Tränen in meine Augen traten. Ich wollte doch nur nachhause. Auf dem Gang hörte man das einsame Klicken von Absätzen. Die Schritte kamen näher und näher und irgend etwas sagte mir, dass ich mich verstecken musste. Ich durfte nicht hier sein, ich gehörte hier nicht her.

In der Dunkelheit war es schwierig, ein gutes Versteck zu finden, also kniff die Augen zusammen, erkennen konnte ich trotzdem nicht wirklich viel. Zunächst fiel mein Blick auf das Bett, in dem ich gelegen hatte. vielleicht, könnte ich darunter kriechen. Beim Versteckspielen hatte das sehr oft funktioniert. Neben mir war außerdem noch ein großer Schrank, vermutlich mit Klamotten drin.

Da hörte ich schon, wie jemand vor der Tür stehen blieb und mir wurde klar, das der Schrank ausreichen musste. Die Zeit war mir davon gelaufen. Ich riss die Tür auf und schlüpfte hinein, zwischen verschieden Mäntel und Jacken die nach einer Mischung aus fast verflogenem Parfum einer alten Dame und langsamen verfall  rochen. Irgendetwas musste mir beim Hereinschlüpfen in den Rücken gestoßen haben, denn mich durchzuckte dort ein scharfer Schmerz. Ich atmete ruckartig ein und hielt den Atmen an. Die Tür zum Schrank zog ich genau in dem Moment an, in dem sich die andere Tür öffnete. Tränen traten mir in die Augen, während ich langsam durch einen kleinen Spalt blickte, geradewegs in den Raum hinein und ich hielt mir schnell eine Hand vor den Mund, um jedes Geräusch, das aus meinem Mund hätte drängen können im Kern zu ersticken.

Mein Herz machte einen Satz als ich schemenhaft eine große Gestalt in dem Raum ausmachte, die langsamen Schrittes zu dem Bett lief und sich über die steife Person im Nebenbett beugte. Hinter ihr wehte etwas wie ein Umhang, ihr Kopf schien von einer Art Kappe bedeckt unter welcher lange, lockige Haare zum Vorschein kamen. Sie hielt etwas in der Hand , das ich nicht klar erkennen konnte. Bloß nicht zu laut Atmen. Mein Herz schlug in meiner Brust als wollte es aus dieser herausbrechen, ich bekam Angst , die Gestalt würde sich sicher gleich zu meinem Versteck umdrehen , nur weil sie das „Ba-Bumm Ba- Bumm“ meines blöden, verräterisch ängstlichen Herzens hören konnte.

Doch die Gestalt tat anstattdessen etwas unerwartetes. Sie begann zu dem Körper, der Leiche, wie ich langsam aber sicher zu begreifen begann, zu sprechen. “Es tut mir leid, gehen sie in Frieden“ das war alles. Die Stimme war sanft und wirkte ehrlich sehr betrübt. Eine weibliche Stimme, angenehm anzuhören, wie die eines Engels. „Racheengel“ schoss es mir durch den Kopf. Beinahe wäre ich hinausgegangen und hätte sie um Hilfe gebeten, als sich die Gestalt von dem Bett der Leiche wegdrehte und sich dem Bett zuwandte, in dem ich gelegen hatte. Sie schien den Kopf zu schütteln, wenn ich das richtig erkannte.

“ Ah. Sie ist…ausgebüchst. Schon wieder.“  Ein harmloser Satz eigentlich, aber die Art, wie sie es sagte, war gar nicht mehr engelsgleich. Ihre Stimme war frostig, so eiskalt, dass sie mir eine Gänsehaut über der Rücken jagte. Sie hatte das „ausgebüchst“ ausgespuckt, als verbrenne es ihren Mund. Und was sollte „Schon wieder“ eigentlich heißen? Ich war mir sehr sicher, dass ich noch nie an diesem Ort gewesen war und ich hoffte, dass dies das erste und letzte Mal bleiben sollte.

Da blickte sich die Gestalt auch schon im Raum um, vermutlich auf der Suche nach mir. Mein ganzer Körper begann unkontrolliert zu zittern und Tränen rannen mir übers Gesicht. Schnell tupfte ich sie mit meinem Ärmel ab. Ruhig bleiben. Leise sein. Langsam Atmen. Diese drei Sätze wiederholte ich in meinem Kopf, wie ein Mantra, während ich betete, dass sie den Schrank übersehen würde.

Sie lief im Kreis, durch den dunklen Raum, die immerwährend blinkenden Lichter warfen lange Schatten an die Wand. Einmal lief sie so nah an der kleinen Spalte vorbei, dass ich den Luftzug noch im Schrank spürte und den Atmen anhielt. Nach einigen Minuten, murmelte sie etwas, das ich nicht verstand und verließ den Raum.

Ich atmete erleichtert auf. Ich war sicher, zumindest fürs Erste. Ganz vorsichtig öffnete ich die Tür des Schrankes, wobei der Schmerz in meinem Rücken wieder aufflammte. Mir wurde ganz kurz schwarz vor Augen, doch irgendwie hielt mich das Adrenalin in meinen Adern auf den Beinen.

Alles in mir schrie “ Lauf! Renn! Weg von hier, auf nachhause!“ und so näherte ich mich, wie in Trance der großen Tür, durch die jene Gestalt verschwunden war. Ich lies die Leiche hinter mir zurück und trat hinaus wobei mir auffiel, dass auch dort das Licht nur spärlich vorhanden war. Links von mir befand sich nur eine karge, beigefarbene Wand, von der die Tapete schon langsam abblätterte und rechts erstreckte sich ein schier endlos scheinender Gang. Die Lampen über mir flackerten, wodurch es immer wieder zu Sekunden in totaler Dunkelheit kam. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich begann den Gang entlang zu schleichen.

In regelmäßigen Abständen tauchten Türen zu meiner Linken und Rechten auf, alle mit verschiedenen Nummern versehen. 315, 313, 311… aus manchen Zimmern drangen dumpf Geräusche, Stimmen, oder Ächtzen, lautes, schweres Atmen, jemand, der hustete. Ich hatte das Bedürfnis in jedes der Zimmer hineinzustürzen um mich zu versichern, dass alles in Ordnung ist. Dabei wusste ich natürlich, dass ich niemandem hier helfen konnte, dafür war ich viel zu klein. Wenn ich nur heraus käme und meine Eltern fand, die könnten die Polizei rufen und der Spuk hier drinnen wäre vorbei.

So tapste ich weiter, ohne eine einzige Tür wirklich zu öffnen. Einmal trat ich in etwas Nasses und zuckte vor ekel ein wenig zusammen, mir war jedoch klar das ich durch so etwas keine Zeit verlieren konnte. Irgendwo hier war eine Art dunkler Racheengel, der es auf mich abgesehen hatte und ich lief ohne Deckung durch diesen tristen Gang. Jeder meiner Schritte machte ein schleimig,zähes Geräusch, was vermutlich dadurch bedingt war, dass ich durch diese komische Flüssigkeit gelaufen war.

Mein Kopf drehte sich wie von selbst immer wieder nach hinten, auf der Suche nach Verfolgern, sodass ich es gar nicht bemerkte, als ich das Ende des Ganges erreicht hatte. Ich lief volle Kanne gegen die Wand und in meinen Ohren begann es zu klingeln. Zumindest war ich an einer schmalen Treppe angekommen, die  nach untern führte, doch auf diese gute Nachricht folgte direkt der nächste Schreck. Ganz hinten, nahe der Tür aus der ich gekommen war, schwang eine Tür auf und gleich zwei Dunkle gestalten traten in den Gang. Keiner von ihnen schien ein Wort zu sagen, oder falls doch hatte ich sie nicht gehört. Eigentlich kein Wunder bei dem Klingeln in meinen Ohren.

Ohne zu zögern stürzte ich die Treppen hinunter um Zeit zu gewinnen, doch meine Beine gehorchten mir nicht so wie sie sollten.

Ich war zu langsam. Jede Stufe schien eine Herausforderung für mich zu sein, so unsicher war ich plötzlich auf den Beinen. Einmal knickte ich sogar um, sodass ich nach vorne fiel und hätte ich das Geländer nicht zu fassen bekommen, wäre ich sicher in meinen Tod gestürzt. Völlig außer Atem kam ich schließlich irgendwann unten an, doch da hörte ich schon Schritte hinter mir.

Eine Stimme drang zu mir durch, ganz anders als die kühle Stimme des Racheengels. Sie war tief und warm, es musste ein junger Mann sein: “ Warten sie doch, alles wird gut, versprochen. Keine Angst.“

Doch selbst diese sanfte, warme Stimme konnte mich nicht mehr zurückhalten, denn wenig Meter vor mir erblickte ich eine große Glastür, die auf die Straße führte. Der Ausgang, der in rotem Licht erleuchtet war und mir die Freiheit versprach.

 “ Lasst mich in Ruhe“ schrie ich und stürzte los. Ich kam an die Tür und schob sie auf, doch etwas ließ mich straucheln,zögern. Meine Stimme war dünn und tief gewesen und…so gar nicht wie meine Stimme. Das verwirrte mich, aber vielleicht war das ja normal, wenn man Angst hatte. Ich atmete die frische Luft tief ein, ließ sie in meine Lungen strömen und machte mich bereit zu rennen.

Zu spät ging mir auf, dass ich zu lange gezögert hatte. Ich spürte wie mich jemand festhielt,und zappelte. “ Nein! Lass mich!“ Ich war zu schwach. Gegen die starken Arme, die um mich geschlungen waren wie Ketten, konnte ich nichts ausrichten. Eine Nadel fuhr in meinen Arm und ich zuckte zusammen. „Mama…Papa… tut mir leid.“ flüsterte ich noch, als meine Welt sich in Schwärze hüllte.

Was ich nicht mehr mitbekommen sollte war, wie ich zurück in das Zimmer getragen wurde. Auch den Anruf, den der „Racheengel“ tätigte bekam ich nicht mit. Sogar die Beisetzung meines langjährigen Freundes und Zimmergenossen Herrn Richter am nächsten Morgen entging mir. Nicht, dass mir das aufgefallen wäre. Das erste was ich wieder mitbekam waren, wie drei junge Erwachsene ins Zimmer kamen. Sie redeten miteinander wobei mir eine der Stimmen ebenfalls bekannt vorkam. „Alles wird gut“ sagte ein hochgewachsener, kräftiger Mann. Er trug einen Kittel und hielt ein Klemmbrett in der Hand. Mit der anderen tätschelte er der jungen Frau die Schulter. Den Satz hatte er schon mal gesagt, gestern erst. Zu mir.

Ich sah mich um und blickte in zwei besorgte Gesichter. Der zweite junge Mann beugte sich zu mir: „Ist alles Ok? Geht es dir gut ? Jetzt sind wir ja da Ma-“ Ich schreckte ein wenig zurück, aber blieb liegen, denn mein Rücken schmerzte unglaublich. Ich hatte diesen Mann in meinem Leben noch nie gesehen und doch schien er seltsam vertraut. Warum war er so besorgt um mich?

Sein Gesicht erinnerte mich vage an meinen Vater und das beruhigte mich, deshalb entschloss ich mich, ihn anzusprechen: „Entschuldigen sie, Mister…aber… ich weiß nicht genau was ich hier mache, ich muss nachhause, zu meinen Eltern. Sie werde sicher schon besorgt sein.“ unterbrach ich ihn. Er war ein netter Mann, doch Schmerz durchzuckte sein Gesicht, als hätte ich ihm gerade eine Ohrfeige verpasst. Seltsam. Ich wollte nicht, dass dieser Mann Schmerzen litt, das fühlte sich nicht richtig an.

Dann drehte ich meinen Kopf zu der jungen Frau, die Tränen in den Augen hatte. Kurz hatte ich das irrationale Bedürfnis diese wegzuwischen und sie in den Arm zu nehmen. Auch seltsam, denn sie war mir ebenso fremd wie der Mann. Ihren Schmerz hätte ich ebenfalls gern gelindert, wüsste ich nur wie.

Der Mann in medizinischer Kleidung wandte sich an die beiden, er senkte seine Stimme und dachte Wohl ich verstünde ihn auf diese Weise nicht: 

„Es tut mir sehr Leid, Herrn und Frau Schimml. Es steht schlecht um ihre Mutter. Gestern hätte weiß Gott was passieren können, wäre die Kollegin Rachel Engelbrecht nicht so aufmerksam gewesen in der Nachtschicht.“

Ich verstand gar nichts mehr. Schimml. Das war mein Nachname, den hatte ich doch von Mama und Papa. Diese Leute waren nicht Mama und Papa. Die einzige logische Konsequenz daraus war, dass ich das alles ja auch nur geträumt haben könnte. Vielleicht träumte ich noch immer. So hilflos wie ich mich fühlte, musste das hier ein Albtraum sein.

Ich blickte an mir hinunter, auf schrumplige Hände, die genauso wenig zu mir gehörten wie die brüchige, tiefe Stimme die aus mir heraus kam sobald ich den Mund öffnete und schloss die Augen. Gleich würde ich aufwachen.Gleich.

-Ende-

Xenia Riexinger, MSS 12